Vom Ufer der Memel: Die Stadtverwaltung
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felixackermann
on Apr 14, 2006
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Memel
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Es ist einer jener Tage, an denen den Heimatforschern, Lokalpatrioten und Alteingesessenen der kulturelle Herzstillstand droht. Die Stadtverwaltung hat begonnen, eines ihrer neumodischen Projekte zu realisieren.
Auf dem ehemaligen Marktplatz, der heute Sowjetskaja heißt, walten nun Bagger, Planierraupen und Bauarbeiter, denen die Schichtungen der Vergangenheit unter dem Platz herzlich egal ist. Im Stillen machen die Patrioten der Altstadt Fotos, sie drehen Videofilme und inzwischen ist sogar eine eigene Homepage über den Stadtumbau entstanden:
Grodnoproblem
, die den stillen Protest manifestiert. Doch die Bauarbeiten werden in Eile weitergeführt, denn bis zum Festival der nationalen Kulturen Anfang Juni muss der zentrale Platz der Stadt in neuem, matten Formsteinglanz erstrahlen.
Dieses Phänomen ist keine Grodnoer Besonderheit. Als zum Beginn der 1990er Jahren der Kapitalismus in Polen Einzug hielt, wurde das ganze Land mit grauen und dunkelroten Formsteinen gepflastert, die als Polbruk bekannt wurden. Es handelte sich um eine symbolische Befreiungsaktion vom Beton- und Staubmuff des Sozialismus und galt als der letzte Schrei. Nun, da man in Polen beginnt, zu begreifen, dass der gemeine Polbruk nicht zu den besten Baumaterialien gehört, ist auch Aliaksandr Lukashenka auf den Geschmack gekommen: er lässt sein ganzes Land mit grauen und dunkelroten Formsteinen pflastern.
Vom Ufer der Memel: BRSM
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felixackermann
on Apr 7, 2006
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Eine Woche lang haben die Aktivisten des weissrussischen Jugendverbandes BSRM jeden tag von zwölf bis vier Uhr vor dem polnischen Konsulat gegen die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Republik Belarus zu demonstrieren. Zu den zwei Dutzend Jugendlichen gesellten sich jeden Tag einige Rentner, um mit Sprüchen wie “Hoch lebe die slawische Brüderschaft” für die Verbesserung der polnisch-weissrussischen Beziehungen einzustehen. Der Ruf: “Wir beharren auf unserem Standpunkt” wurde von der Schlange vor Konsulates prompt erwidert: “Und wir beharren auf unseren Visa”. Die Visaabteilung wurde jeden Tag während der Kundgebungen geschlossen und viele Grodnoer konnten ihren Geschäften in Polen nicht nachgehen. Statt schnell mit ihren zweiten Pass eine neues Visum für den kleinen Grenzverkehr zu beantragen hörten sie Sprechchöre wie: “Bruder Pole verrat uns nicht, Belarusse verkauf dich nicht!” “Wir sind für Zloty nicht zu haben.” Der Drahtzieher vom BRSM stiftete zum Schluss noch einen Sprechchor, damit wirklich allen klar ist worum es hier geht: “Lieber die letzte Diktatur in Europa als die erste Hure Amerikas!”
Vom Ufer der Memel: 03.04.2006
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felixackermann
on Apr 3, 2006
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Die Spatzen rufen es von den Dächern: Schon sechs Tage war der Präsident nicht im Fernsehen erschienen. Zuvor hatte man den Eindruck, dass er 24 Stunden am Tag präsent war.
An einigen Tagen hatte er eine gute Nachricht, an anderen warnte er das Volk vor bösen Einflüssen. Und an manchen Tagen erhob er seinen Zeigefinger und belehrte die Weißrussen über die Notwendigkeit das Vaterland zu schützen. Doch nach seinem mehr oder minder „eleganten Wahlsieg“ verschwand er vom Bildschirm. Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Hat er sich nach erfolgreicher Wiederwahl eine Woche Urlaub gegönnt? Oder liegt er erschöpft danieder?
Am sechsten Tag erschien er wieder, ermattet und verunsichert. Er sprach zu den Fernsehzuschauern anders als sonst. Etwas war vorgefallen, etwas hat sich verändert. Denn er forderte kleinlaut: „Was hängen überall meine Portraits im Land. Nehmt sie ab, ein kleines Foto reicht auch. Am Ende wird man mich noch des Führerkults beschuldigen!“ Am nächsten Tag in der Meldestelle war, begrüßte mich die zuständige Beamtin: „Ach Ackermann ist wieder im Lande!“ Sie war bester Dinge, denn nur wenige Ausländer belästigen sie derzeit während der Arbeit. Nachdem sie meine Registrierung murrend vorgenommen hat, bemerke ich beim Verlassen des Raumes den Nagel und den Schatten an der Wand. Sie hatte das Portrait des obersten Dienstherren bereits abgehängt.