Vom Ufer der Memel: Bitte 50 Pfg. bereithalten
Posted by:
felixackermann
on Aug 19, 2005
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Memel
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Die Reise nach Grodno nach einigen Wochen Aufenthalt in Polen ist vertraut. Vor dem Bahnhof in Kuznica gehen die Schmuggler dem üblichen Tauschgeschäft nach: jeder nimmt so viele Paar Schuhe, Jeans und Wurstpackete, bis das Limit erreicht ist. Dafür nimmt der andere Kosmetik, ein Mobiltelefon und fünf Paar Badelatschen an sich. Der Spurt vom Zug zur Zollkontrolle verwundert nicht mehr. Das Gerangel vor den langen Bänken, auf denen jede Tüte durchsucht wird, erscheint ganz normal. Der Atem der Pendler stockt für einen Moment: wer hat heute Dienst? Zwischen den neugierigen Frauen steht ein sichtlich entspannter Alexander Milinkiewicz, einer der möglichen Präsidentschaftskandidaten der Opposition: in einem hellen Anzug, ohne Tüten und Taschen, ohne Waren schiebt er sich in der Schlange langsam nach vorne ohne zu schimpfen. Von den Umherstehenden erkennt ihn niemand.
Nach der obligatorischen Überprüfung meines Passes im dunklen Kämmerlein erhalte ich ihn mit einem freundlichen Viel Glück! zurück. Ich bin der einzige Ausländer unter den Reisenden. Der Bahnhof, der einst wie ein Flughafen angelegt wurde, strahlt noch immer dieses Gefühl der Abgeschiedenheit aus: das staatliche Fernsehen flackert, eine Frauenstimme gibt über Lautsprecher Sicherheitshinweise, der Fahrplan weist neben den Zielen im Regionalverkehr einige russische Städte auf - die Strecke Paris - Wilna - St. Petersburg wurde stillgelegt. Auf dem Vorplatz wartet ein Kleinbus auf Kundschaft. An der Eingangstür steht in großen Lettern: Transity. Darunter in deutscher Sprache: Bitte 50 Pfg. bereithalten.
Am Stadtrand sind die Felder bereits gepflügt, ich vernehme das monotone Quietschen der Schaukel, das Geschrei der spielenden Kinder. Vor dem Haus sitzen die Nachbarn und streiten über die unregelmäßige Müllabfuhr und die hohen Strompreise. Das große Thema der Stadt aber ist die Pilzsaison. Schon auf dem Bahnhof hat man die Zöllnerinnen tuscheln hören: in Essig muss du sie einlegen, mit Knoblauch und Paprika. Rezepte werden ausgetauscht, letzte Informationen über die Wetterlage kolportiert - ein Segen, dass nach der Regenzeit nun wieder die Sonne scheint.