Vom Ufer der Memel: Die Legende lebt
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felixackermann
on Nov 27, 2005
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Memel
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Stare Wasilischki kann man in fünf Minuten durchschreiten. Entlang der Straße reihen sich einige gelb und orange angemalte Holzhäuser aus Vorzeiten, eine Bauruine aus der Sowjetunion und ein gewaltige neogotische Backsteinkirche.
Einige Hütten neigen sich langsam, die Farbe ist verblichen, im Hof gackern keine Hühner. In einer solchen ist einst Czeslaw Wydrzycki aufgewachsen. Im nahen Grodno flog er aus der Musikschule, um wenig später in Polen als Jazzmusiker berühmt wurde. Zu Ehren der Memel nannte er sich nach der Emigration aus der Sowjetunion Czeslaw Niemen. In der Peter und Pauls Kirche, die so groß ist, als wäre sie Pfarrkirche für einen ganzen Bezirk einer Großstadt, hängt erinnert seit kurzem eine Tafel an den Gitaristen, Sänger und Organisten. In den ärmlichen Hütten wohnt noch seine Tante, einige Cousins und andere Wydrzyckis.
Nebenan bei den Nachbarn erinnert man sich genau an Czesiek. Hausherr Antoni Karpowicz sitzt stolz mit seinen drei Katzen auf dem Sofa neben der Tretorgel von 1850 und schwärmt: ach der junge Wydrzycki, das war ein begabter Knabe. Der spielte auf der Orgel nicht so lahm wie ich bei der Messe. Er spielte nur, was ihm der liebe Gott höchst persönlich eingeflüstert hat – frei weg von der Seele. Nicht alle konnten ihn hier leiden. Aber er war ein ganz besonderer Vogel. Wir hatten früher in Stare Wasilischki ein Blasorchester – nur mit Leuten aus unserem Dorf. Seine Eltern waren auch mit von der Partie, sie hatten sogar ein Klavier zu Hause, da habe ich auch mal drauf geplinkert. Später haben sie in dem Haus einen Dorfkonsum eingerichtet, heute steht es leer.
Vom Ufer der Memel: Portrait vor seiner ersten Platte von N.R.M.
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felixackermann
on Nov 21, 2005
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Er ist dreizehn Jahre alt, hört Metalica, die Haare sind brav geschnitten, er trägt einen weiß-rot-grünen Trainingsanzug mit der Aufschrift „Belarus“. Pascha wohnt bei seinen Großeltern in Grodno, weil die Mutter zeitweilig in Moskau arbeitet.
Und was gibt’s Neues Pascha? „Ich habe ein neues Telefon: Motorola c650, mit 65.000 Farben, Spielen, Bildern und mp3-Melodien.“ Und sonst? „Ja, ein paar neue CDs von Metalica und sonst gibt’s eigentlich nichts Neues.“ Pascha, du siehst gar nicht aus wie ein Rocker! „Naja, eigentlich würde ich mir die Haare am liebsten ganz abrasieren, so auf Skin, aber dann würde ich eine ordentliche Tracht Prügel von meiner Großmutter bekommen. Für lange Haare übrigens auch.“ Und warum sprichst du nicht wie deine Großeltern Weißrussisch? „Na ist doch klar: ich kann diese Bauernsprache nicht leiden, mir wird schlecht davon. Spätestens nach einer halben Stunde muss ich kotzen, wenn ich selbst anfange zu sprechen. Und in der Schule, da muss man aufpassen, ich will doch nicht für einen Dorfproll gehalten werden. Oder im Geschäft, die glauben noch, man sei nicht von hier. Und ich will dir mal was sagen: ich brauche Weißrussisch nicht, es ist einfach eine bescheuerte Sprache. Keiner spricht hier Weißrussisch, vielleicht die Großeltern, ein paar Fremde, aber sonst – nicht mal im Weißrussischunterricht spricht der Lehrer Weißrussisch! Wozu also eine tote Sprache sprechen?“ Aber warum lernst Du sie nicht wenigstens, um Deinen Großeltern eine Freude zu bereiten? „Ich sprech doch Weißrussisch, viel besser als die Alten, die machen doch Fehler über Fehler, aber ich will mich eben nicht in dieser lausigen Sprache unterhalten, ich gehe sowieso fort von hier, nach Moskau zu meiner Mutter und da komme ich mit Russisch viel weiter.“ Und was suchst Du in Moskau? „Na das große Geld, ist doch klar, ich werde groß einsteigen, vielleicht in die Werbebranche oder ins Immobilienbusiness – da brauche ich die Sprache meiner Großeltern nicht.“
Vom Ufer der Memel: Drei Variationen für die neue Saison
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felixackermann
on Nov 6, 2005
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Ein rosa Mantel mit Rüschenmuster, eine von Oma gehäkelte rosa Wollmütze mit passendem rosa Schal, in den gelbe, rosa- und mintfarbene Strähnen eingehäkelt wurden. Ein dunkelbrauner Zopf bis zu Po, mit silbern schimmernden Plastikblumen zusammengefasst. Ein hellroter Wollpullover, blauer Rock aus Kunstleder, helle Strumpfosen und knalllrote halbhohe Stöckschuhe mit riesigen knallroten Schleifen. Dazu noch ein Handtäschchen mit knallroten Rüschen.
Wasserstoffblonde Haare mit rosa Strähnchen, ein grauer Strickpulli mit der Aufschrift Global Victory über einem ausladenden Busen, ein schwarzer Minirock aus Kunstleder – aufgrund des kräftigen Gesäßes abstehend, schwarze Strumpfhosen, hohe schwarze Stöckelschuhe mit einer mit Metall beschlagenen Schärpe. Weiße Lederhandtasche.
Auf Solarium geschminktes Gesicht, lange dauergewellte brünette Haare, große runde golden glänzende Ohrhänger, schwarzer Strickpulli, hochgeschlagene Jeans - washout mit einem breiten weißen Gürtel direkt über den Beckenknochen gehalten, darüber die Borte einer kürperfarbenen Strumpfhose. Weiße Stöckelschuhe mit goldenen Blumenmustern bestickt, weiße Plusterjacke, dunkelroter Strickschal, Handtasche mit Leopardenmuster.
Vom Ufer der Memel: Der Bund der Polen in Weißrussland ist auf alles gefasst
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felixackermann
on Nov 2, 2005
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Das Haus aus gelben Klinkern steht unter Beobachtung. Man erkennt die Männer vom KGB daran, dass sie besonders unauffällig in einem Auto sitzen. Sechs alte Frauen in Kopftüchern haben am Eingang einen Korridor gebildet. Sie mustern jeden Besucher genau: einen von Kruczkowskis Leuten würden sie nicht über die Schwelle lassen. Der ehemalige Vorsitzende des Bundes der Polen wurde von einem weißrussischen Gericht wieder eingesetzt, nachdem die Minderheit einen neuen Vorstand gewählt hatte. An den Wänden des Vereinssitzes hängen handgemachte Plakate: „Ein Bund für Polen, nicht für Judase.“ Auf dem Empfangstisch liegen die neusten Artikel aus der polnischen Presse, die berichtet, dass Tadeusz Kruczkowski die Einreise nach Polen verweigert wird, weil er ein Mann des Präsidenten Lukaschenka sei. Die neue Vorsitzende Andzelika Borys sitzt rauchend vor einem übergroßen Wandteppich mit dem Antlitz des Aufstands-Helden Kosciuszko. „Jetzt zeigt sich, wer wirklich Pole ist“, sagt sie mit fester Stimme. Da klingelt das Telefon: „Schnell, schnell, sie sind wieder im Fernsehen“, rauscht es im Hörer. Borys eilt in die Bibliothek im Keller. Erneut sendet der erste staatliche Kanal eine Reportage über die polnische Minderheit. Tenor: sie bereite mit Hilfe des Westens einen bewaffneten Aufstand vor. In Polen würden in geheimen Lagern Terroristen für den Einsatz in Belarus ausgebildet. Als Kronzeugen treten Kruczkowski und seine Leute auf. Borys lacht bitter. „Ich hatte doch angekündet, dass wir keine Politik machen werden! Alles was wir tun, ist für unser Recht als Minderheit zu kämpfen.“
Andrzej Pisalnik ist Chefredakteur ohne Zeitung. Das Organ des Bundes erscheint seit drei Wochen nicht mehr. Das staatliche Druckkombinat hatte zum ersten Mal in Fünfzehn Jahren den Andruck verweigert – angeblich wegen einer ausstehenden Rechnung. Keine andere Druckerei will die „Stimme vom Ufer der Memel“ drucken. Nervös raucht er vor dem Vereinssitz eine Zigarette nach der anderen und beantwortet nebenbei die telefonischen Fragen von polnischen Journalisten. Bereits seit drei Wochen ist keine Zeitung erschienen. Pisalnik, der zuvor für die oppositionelle „Pahonia“ gearbeitet hat, lächelt: „Überall wo ich auftauche gibt es Ärger. Ich wette die Polizisten, die den Laden hier räumen, kenne ich schon von den letzten Veranstaltungen.“ Seinem Kollege Andrej Poczebut, der selbst kürzlich wegen Präsidentenbeleidung Wochen im Gefängnis saß, ist nicht zum Lachen zu Mute: „Der Bund der Polen wird ganz sicher liquidiert. Er ist mit 25.000 Mitgliedern die größte NGO im Land. Er ist unabhängig. Das ist unerträglich für den Präsidenten. Man muss also mit dem Schlimmsten rechnen. Die Frage ist nur, was mit dem ganzen Eigentum wird, den vielen polnischen Häusern, den Schulen. Die wurden komplett von Polen bezahlt.“
Der Wagen der Beobachter vom KGB hat wieder gewechselt. Vor dem Haus fotografiert eine Korrespondentin der oppositionellen Zeitung „Nasza Niwa“ die Statur des romantischen Nationaldichters Mickiewicz, der einst über das Leben im polnischen Osten schrieb. Dahinter hängt ein Transparent: „Wir harren aus im Land unserer Ahnen“ – ein Zitat der Hymne des polnischen Kampfes gegen Bismarcks Germanisierungspolitik im Westen Polens.