Vom Ufer der Memel: 27.06.2005
Geschrieben von:
felixackermann
am Jun 27, 2005
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Memel
Eine Ausstellung von historischen Postkarten bringt das alte und das neue Grodno näher
Es gibt Grodnianie und es gibt Grodnienzy. Die ersteren werden immer weniger, sie leben in der ganzen Welt verstreut, sprechen neben Polnisch einige andere Sprachen und kennen noch den Stadtplan von 1937, auf dem so viele jüdische Unternehmer ihre Werbung platziert hatten. Die letzteren werden immer mehr, sie leben in Grodno erst in zweiter Generation und sie kennen nur die sowjetische Stadt, mit dem T-34 am russischen Theater, ohne die 1961 gesprengte Pfarrkirche. Fast alle, die sich zwischen beiden Gruppen hin- und her bewegen, waren kürzlich im Alten Schloss versammelt. Studenten, Hobbyhistoriker, arbeitslose Architekten, leidenschaftliche Sammler und einige alte Bürger der Stadt betrachteten die ausgestellten Postkarten voller Erfurcht, Neugierde und Aufregung. Es handelt es sich um Ikonen der untergegangenen Stadt, die doch weiterexistiert: in der Erinnerung der Überlebenden und Enthusiasten sowie im weitgehend erhaltenen städtebaulichen Ensemble.
Feliks Woroszylski, der Macher der Ausstellung, ist eigentlich weder Grodnianin noch Grodnienez. Der Sohn eines polnisch-jüdischen Schriftstellers, der in einer Grodnoer Ärztefamilie groß geworden war, lebt heute in Hamburg, aufgewachsen ist er in Warschau. Nach dem Tod seines Vaters hatte er begonnen, sich für das Schicksal der Familie zu interessieren. So fand er das dreistöckige Gründerzeithaus, das sein Urgroßvater 1928 gekauft hatte um die erste private Entbindungsklinik der Stadt zu gründen. Hier wuchs sein Vater auf, hier arbeiteten und lebten die Großväter. „Wie es früher war, findest Du nur noch auf alten Postkarten“, riet ihm ein Bekannter. Und so wurde er schon bald zum Sammler. Heute besitzt er mit über 1300 Postkarten die umfangreichste Kollektion weltweit. Dies ist kein Zufall: die meisten befinden sich noch immer in deutschen Familienarchiven. Die kaiserlichen Truppen hatten während des 1. Weltkriegs über drei Jahre Zeit, an die daheim gebliebenen Grüße zu senden. „Das war das goldene Zeitalter der Photographie. Viele Soldaten hatten einen eigenen Apparat dabei und haben bei den Photographen vor Ort eine kleine Auflage als Postkarten abziehen lassen. Wenn man eine solche findet, ist es ein großes Glück“, erklärt Woroszylski. Er hat früh angefangen, bei eBay nach Grodnoer Zeugnissen zu suchen. Seit das Auktionshaus online ist, findet man sie wesentlich leichter als auf den Flohmärkten der Republik. Aber heute wird es auch für ihn schwieriger, mit den Geboten der Konkurrenz mitzuhalten. Die einen Motive sind für fanatische Anhänger der Zarenfamilie von Bedeutung, andere gehen an Sammler jeglicher Judaica, weitere werden von Eisenbahnliebhabern ersteigert. „Seit neustem gibt es in Belarus Leute mit richtig viel Geld, die um jeden Preis zuschlagen“, meint der Hamburger.
Vom Ufer der Memel: 20.06.2005
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felixackermann
am Jun 20, 2005
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Man hatte mich vorgewarnt: der fremde Musikant muss mit Schlägen rechnen, wenn er die Wünsche der Gäste nicht erfüllt. Ich wurde trotz Versagens verschont.
Die Schule Nr. 16 in Grodno ist eine allgemeinbildende Schule wie alle anderen in der Stadt. Nur wird hier auf Polnisch unterrichtet. Das Gebäude wurde von polnischen Organisationen erbaut, betrieben wird es nun vom weißrussischen Staat. An diesem Samstag stand für alle 11. Klassen Grodnos der Abiball an. Weil sich die Eltern der polnischen Abiturienten erst spät und nur unwillig einig wurden, fand die Feier in einer schäbigen Kantine des Dom Techniki statt, getanzt wurde auf einem dunklen Gang. Da sonst niemand zur Verfügung stand, wurde ich als DJ geordert – zuvor hatte ich am anderen Ende Polens weißrussische Musik aufgelegt, ein Hiesiger hatte mich empfohlen. Es sollte ein Witz sein, es wurde ein Albtraum.
Während die Kinder, wie die Lehrer ihre 18-jährigen Absolventen nennen, in der Pfarrkirche eine Messe besuchten, sortierte ich noch meine Sammlung post-sowjetischer Popmusik – ich war auf alles gefasst, so dachte ich zumindest. Ich hatte immerhin einen ganzen Tag damit verbracht, polnische, russische und weißrussische Hits so zu sortieren, dass am Anfang der Schein der „Wiedergeburt des Polentums“ gewahrt wird, um später der post-sowjetischen Wirklichkeit zu frönen. Man hatte mir aufgetragen: solange der Priester am Tisch sitzt, muss anständige Musik laufen. Da dieser gar nicht kam, sollte ich nun von Anfang bis Ende Pop bringen. Kein Problem, dachte ich. Und spielte jene Melodien, die ich im Westen zur allgemeinen Belustigung eingesetzt hatte. Keine Reaktion.
Vom Ufer der Memel: 14.06.2005
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felixackermann
am Jun 14, 2005
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Ein warmer Montagabend. Die große Synagoge leuchtet in der Abendsonne. Die Gemeinde grüßt sich auf Russisch: z praznikom!
Heute beginnt das jüdische Pfingstfest. In Erinnerung an die Übergabe der heiligen Schrift durch den Herrn an Moses versammeln sich die Grodnoer Juden, die nicht nur formell in ihrem sowjetischen Pass „jüdischer Nationalität“ waren und die das Land noch nicht verlassen haben. Es sind etwa Achtzig, unter ihnen immer weniger Alte, die noch Jiddisch sprechen und selbst die Tora studiert haben. Die meisten hier sind sowjetische Menschen. Sie und ihre Kinder lernen die jüdischen Bräuche erst von Jahr zu Jahr kennen. Deshalb erklärt der Gemeindevorsteher lautstark an was heute erinnert wird: während Moses die Gesetztestafeln erhielt, verloren die Israeliten am Fuße des Berges die Geduld und schufen sich ein goldenes Kalb, um es anzubeten… Nach der Einführung begrüßt der orthodoxe Rabbi aus Amerika die Gemeinde. Er hat im vergangenen Jahr etwas Russisch gelernt und müht sich, in der fremden Sprache das Ereignis zu preisen. Währenddessen rennt seine kleine Tochter quer durch die Synagoge und klammert sich an seinen Frack. Unter den Zuhörern kommt Unruhe auf. Die Synagoge ist so groß, dass das Echo der Stimme des Rabbi lange nachhallt. Doch nun passiert wieder etwas: er rollt die Tora aus, um daraus zu lesen. Die Gemeinde hört der melodischen Stimme zu, die Frauen stehen links, die Männer rechts. Zum Schluss folgt eine russische Übersetzung der Bibelstelle. Und schon nach kurzer Zeit setzen sich alle um die aus Brettern gezimmerten Tische zum Kiddusch. Es gibt koscheren Pudding, Früchte, Gebäck und Coca Cola. Die Synagoge, der einstige Sammelort des Ghettos, in dem so viel Blut geflossen ist, von dem aus die Grodnoer Juden nach Treblinka und Auschwitz geschafft wurden und der über Jahrzehnte Lagerhalle war, ist erfüllt von den Gesprächen der Gemeinde. Und doch werden es von Jahr zu Jahr weniger Mitglieder.
Grodno online
Vom Ufer der Memel: Mein erster weißrussischer Nescafé
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felixackermann
am Jun 11, 2005
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Es ist soweit. Die Automatisierung des Genussmitteleinzelhandels hat Belarus erreicht. Man kann nun am Automaten löslichen Kaffee kaufen: einfach, zweifach, mit Zucker, Milchpulver oder auch ohne.
Nicht, dass jemand darauf gewartet hätte, aber das hiesige Automatenwesen war doch arg gebeutelt durch die horrende Inflation und die nicht gerade verwitterungsbeständigen Banknoten von 10 bis 50.000. Einstmals waren noch Hasen auf den wertvollen Scheinen, weshalb die weißrussischen Rubel Zajtschiki heißen. Heute sind sie nichts mehr wert. Das 10er Nominal, auf dem die Minsker Nationalbibliothek abgebildet ist, dient nicht selten als Ersatz für fehlendes Papier auf öffentlichen Toiletten. Auf der höchsten Banknote strahlt die Ritterburg von Mir. Hoffentlich wird dieses Stück Weltkulturerbe nicht auch bald zu Altpapier. Nach reichlicher Überlegung schob ich kürzlich in der Grodnoer Universität einen 1.000-Rubelschein in einen Automatenschlitz und als er surrend verschwand, fühlte mich wie auf einem Berliner U-Bahnhof. Statt einer Fahrkarte erschien im Ausgabefenster ein Plastikbecher mit Werbung für eine japanische Elektronikfirma. Darin schwamm eine bräunliche Flüssigkeit, die ganz nach löslichem Bohnenkaffee schmeckte. Mein erster weißrussischer Automatenkaffee.