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Vom Ufer der Memel: 24.05.2005

Geschrieben von: felixackermann

Tagged in: Memel

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Ales ist eine Sammlernatur. Seinem Ziel, von zu Hause aus alle Fragen der Welt beantworten zu können, ist er schon ganz nah. Bereits der Korridor ist gut gefüllt mit russischen und weißrussischen Wörterbüchern aller Art. Die griechischen Klassiker stehen im Schlafzimmer zusammen mit den Philosophen der europäischen Aufklärung. Nachschlagewerke, Erstausgaben, Sonderausgaben, Reprints und Kartenwerke füllen auch das Wohnzimmer. Auf dem Dachboden stehen die Kisten mit jenen Akten, die jede für sich eine Überraschung enthält. Unter den Dokumenten befinden sich die Kalender der vergangenen dreißig Jahre, Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg, Photographien von vergangenen Maidemonstrationen, Zeitungsauschschnitte aller Couleur und eine gesunde Portion von Orden für jede Gelegenheit. Und wo ein Sammlerherz schlägt, dürfen auch Briefmarken nicht fehlen. Und weil es so viele wurden in den vergangenen Jahren, hat Ales angefangen, sie in einem großem Album zu sortieren: bunt durcheinander, mal thematisch, mal nach Ländern. Er betrachtet bei jeder Marke das Motiv an und überprüft die Stempel. So lernt er immer etwas Neues dazu. Nur mit dieser einen deutschen Stadt hat er Probleme. Es muss eine ziemlich große Stadt sein, so viele Marken kommen von da. Aber sie findet sich in keinem Atlas. Er hat schon die ganze Bibliothek durchgewälzt, aber keine Spur gefunden. Merkwürdig. Vielleicht wissen sie, wo diese Stadt namens Briefzentrum liegt?


Vom Ufer der Memel: 10.05.2005

Geschrieben von: felixackermann

Tagged in: Memel

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Während die Stadt den Großen Sieg feiert, mache ich mich auf den Weg zu Orten, an denen den Grodnoer Opfern gedacht wird.


Während die Stadt den Großen Sieg feiert, mache ich mich auf den Weg zu Orten, an denen den Grodnoer Opfern gedacht wird. Mit einer handvoll Blumen und einigen Flaschen Wasser fahre ich mit dem Fahrrad zum einstigen Tor des Ghettos in der Schlossstraße. Die Bronzetafel und der Davidstern über dem Durchgang sind die einzigen Zeichen, die von den jüdischen Bürgern und ihrem Tod zeugen. 29.000 Juden waren in den zwei Ghettos eingepfercht, 200 von ihnen überlebten den Krieg. Vor mir waren nur die Mitglieder der Israelitischen Kulturvereinigung der Stadt hier. Sie haben einen großen Trauerkranz aus Plastikblumen hinterlassen. Nach ihnen hat ein Passant die Tafel mit Dreck beworfen.

Die Siegesfeier auf dem Leninplatz kennt nur ein Volk: das sowjetische, eine vom Krieg gestählte Rasse des slawischen, russischen Menschen. Die frohe Botschaft der 60-Jahrfeier: der Sieg ist unsterblich, der Ruhm der Helden von damals ist nicht vergessen, die Heimat des Triumphes ersteht in der Erinnerung wieder auf: die Sowjetunion. Und wie vor ihrem Ableben nimmt die gerontophile Zeremonie ihren Lauf: mit Fahnenappell, Militärparade, Gulaschkanone und Hundert Gramm. Für historische Nuancen ist hier kein Platz mehr. Für die sonst beschworene Vielfalt der Stadt der nationalen Minderheiten hat die Verwaltung keine Geduld. So ist die weiß-rot-weiße Flagge, die an ein paar Ballons durch die Luft schwebt, ein bescheidener Protest der weißrussischen Opposition, gegen die sich die Resowjetisierung des kollektiven Gedächtnis insbesondere richtet. Verschrien als Kollaborateure werden die Anhänger einer ethnisch-nationalen weißrussischen Idee vom Präsidenten persönlich als Sektierer, Spekulanten und Vasallen stigmatisiert. So hatten sich einige Nationalisten während des Krieges vor Hitlers Karren spannen lassen. Die Fragen nach stalinistischen Repressionen, den Bürgerkriegszuständen im Westen des Landes und den Folgen des zentral befehligten Partisanenkampfes für die Zivilbevölkerung gehen im allgemeinen Festlärm unter. Die Vorsitzende des Bundes der Polen wurde kürzlich ins Rathaus zitiert: im Vereinsblatt hatten polnische Untergrundkämpfer von ihrer Sicht auf den Krieg erzählt, der am 9. Mai 1945 für sie längst nicht zu Ende war. An der Gedenktafel am Vereinssitz für die nach Sibirien Verschleppten liegen dennoch keine Blumen. Es sind andere Tage, an denen ihrer gedacht wird.


Vom Ufer der Memel: 07.05.2005

Geschrieben von: felixackermann

Tagged in: Memel

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Seit Wochen arbeitet die Verwaltung nur auf einen Tag hin. Jede Laterne, jedes Gebäude, jeder Baum ist mit bunten Wimpeln geschmückt.

Im Stadtpark wird bis in die Nacht gearbeitet – der Umbau rund um das Denkmal muss um jeden Preis fertig werden. Alle Fassaden wurden geweißt. In jedem Schaufenster, jeder Firma, jeder Kneipe hängt ein Plakat: 60 Jahre Großer Vaterländischer Krieg.

Nachdem im vergangenen Jahr bereits die Befreiung von Belarus gefeiert wurde, wird in diesem Jahr der Anteil der Weißrussen am Großen Sieg gefeiert. Die öffentliche Inszenierung scheint perfekt: im Fernsehen flackern von früh bis spät die Bilder von Gedenkveranstaltungen, auf denen weitere Orden an die immer weniger werdenden Veteranen verteilt werden. In neuen Serien wird das alte Bild der Befreiung beschworen: alle Weißrussen haben zuerst als Partisanen gegen den Feind gekämpft. Dann hat die Weißrussische Front mit dem Durchbruch an der Oder den Sieg über Berlin besiegelt. Danach eine Liveübertragung des Chanson-Programms: die Sowjetunion – Heimat unseres Sieges.


Vom Ufer der Memel: 05.05.2005

Geschrieben von: felixackermann

Tagged in: Memel

felixackermann

Mittagessen im Bahnhof von Grodno. Ausladender sowjetischer Schick, aber kein Geld für die Heizung. In der Tasse schwimmen ein paar Stücke Ei in gelber Flüssigkeit. Die Polen aus Weißrussland kennen ihr Land und beschweren sich nicht. „Ach sie kommen aus Deutschland?“, fragt eine der Damen am Tisch.

Ich erkläre, dass ich mich an der Viadrina mit der Geschichte der hiesigen Region beschäftige und mich daher gerade die polnische Minderheit interessiert. „Sie sind also auch ein Egoist. Ich kenne solche Wissenschaftler, die kommen und nehmen, ohne etwas zu geben. Wissen sie brauchen mir gar nichts zu erzählen, glauben sie mir, sie beschäftigen sich doch nur mit uns, weil ihr den Krieg verloren habt. Sagen sie ihren Leuten, sagen sie ihnen, dass wir euch niemals verzeihen werden, und dass ihr eure Schuld mit nichts aufwiegen könnt, kein Geld, keine Hilfsgüter, kein gar nichts hilft da. Ein totes Kind lässt sich mit nichts bezahlen. Selbst wenn jemand kommt und mir die Hand aussteckt, ich werde den Teufel tun, wissen sie, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen ist eine Schande. Ich werde meine Kinder und Enkel so erziehen, dass sie sich hüten mit Leuten wie ihnen auch nur ein Wort zu wechseln. Ich werde nichts verzeihen“, entfuhr es ihr auf Russisch, worauf sie aufstand und ging. Die anderen beiden Damen entschuldigen sich auf Polnisch: „Ja wissen sie, so sind die Leute aus Minsk. Hochnäsig, arrogant und irrational. Für die sind wir das allerletzte, nur weil wir hier aus der Gegend sind. Stellen sie sich vor, sie hat in Krakau an der Universität studiert, sie ist Polnischlehrerin, aber wir sprechen mit ihr aus Mitgefühl Russisch, weil sie nicht so gut Polnisch kann“, meint die eine. Ihre Bekannte fügt hinzu: „Man muss doch mit jedem Menschen eine gemeinsame Sprache finden und der Gast, ist doch für uns heilig, aber das gilt wohl nur hier in der Grenzregion. In Minsk, die haben einfach keinen Anstand.“


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